Bahnhofsmission | aus Görlitz | 12-2009

Die Heilig-Geist-Gemeinde der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) in Görlitz engagiert sich bei der örtlichen Bahnhofsmission. Was es mit der Bahnhofsmission auf sich hat, wie es zu dem Engagement gekommen ist, welche Chancen die Kooperation bietet und welche (ersten) Erfahrungen es in der Zusammenarbeit gibt, beschreibt der Gemeindepfarrer der Görlitzer SELK-Gemeinde, Propst Gert Kelter.

Die Bahnhofsmissionen entstanden im 19. Jahrhundert. „Innere Mission“ nannte man das kirchliche Engagement, das Evangelisation, also Mission (im Inland im Unterschied zur „äußeren“ Mission, der Mission im Ausland) und Diakonie als untrennbare Einheit verstand. Im Zuge der Industrialisierung kam es auch in Deutschland zur Verelendung der Massen, zum Entstehen eines „Proletariates“.

BahnhofsmissionChristen wie von Bodelschwingh oder Wichern oder auch der Altlutheraner Ludwig Feldner in Elberfeld („Elberfelder Armenwesen“) erkannten, dass die Kirche ihren Auftrag zur Evangeliumsverkündigung nur in engem Zusammenhang mit der diakonischen Sorge um die dringendsten Lebensnotwendigkeiten erfüllen könnte.

Die Bahnhofsmission war zunächst vor allem eine Einrichtung für weibliche Reisende, sehr bald auch für Frauen, die im „Bahnhofsmilieu“ lebten und arbeiteten. Sie entwickelte sich im Laufe der Zeit zu einer missionarisch-diakonischen Einrichtung für alle, die irgendwie im Zusammenhang mit Bahnhof und Bahnreisen Hilfe brauchten.

Heute nehmen die Bahnhofsmissionen neben der Betreuung von hilfsbedürftigen Reisenden auch Aufgaben wahr, die sonst eher Sozialstationen, Wärmestuben, Kleiderkammern, Essenstafeln oder ähnlichen Einrichtungen zukommen.

Das Symbol der Bahnhofsmission ist ein Kreuz. Auch der Begriff „Mission“ ist nicht zufällig. Das sozialdiakonische Engagement ist nicht verständlich ohne den Anspruch, Hilfe suchenden Menschen auf der Basis christlichen Glaubens auch seelisch und geistlich zu helfen, ihnen Zuspruch, Trost und Ermutigung im Geist der christlichen Glaubensbotschaft zu geben.

Der evangelistische Anspruch der Bahnhofsmission führte 1939 zum Verbot durch die Nazis: Auf deutschen Bahnhöfen hatte das „Evangelium“ nichts verloren. Die kommunistischen Machthaber der DDR verboten die Bahnhofsmissionen 1956 aus nahezu denselben Gründen. Diesmal waren es die „sozialistischen Bahnhöfe“, auf denen das Evangelium nichts verloren hatte.

In Görlitz besteht mit der Unterbrechung von 1939 bis 1945 und 1956 bis 1991 die Bahnhofsmission seit 1925. Heute wird die Bahnhofsmission Görlitz von der katholischen Caritas und der evangelischen Diakonie getragen. Für Gebäude, Miete und Unterhalt kommt, wie auch sonst, die Deutsche Bahn AG auf.

Bahnhofsmission GörlitzKleinere Bahnhofsmissionen wie Görlitz haben ausschließlich ehrenamtliche Mitarbeitende. In Sachsen sorgt in vorbildlicher Weise die Bürgerstiftung „Ehrenamt in Sachsen“ dafür, dass solche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wenigstens eine kleine Aufwandsentschädigung erhalten.

Ende 2009 startete die Görlitzer Bahnhofsmission eine Initiative und lud die unmittelbar benachbarten Kirchengemeinden, die Heilig-Geist-Gemeinde (SELK), die evangelisch-landeskirchliche Kreuzkirchengemeinde und die römisch-katholische St. Jakobus-Gemeinde, zu einem Informations- und Kennenlernabend ein. Nein, es ging nicht, wie wohl mancher vermutete, um Geld, Zuschüsse und Finanzen. Es ging um Bekanntwerden, Möglichkeiten intensivierter Zusammenarbeit, um Kontakte und Vernetzung.

Das Ergebnis aus der Sicht der Heilig-Geist-Gemeinde Görlitz der SELK:

Eines unserer Gemeindeglieder spendete einen Herrnhuter Stern für den Eingang der Bahnhofsmission, ein langgehegter und bislang unerfüllter Wunsch der Leiterin, Frau Gudrun Heintze. Das unscheinbare Barackengebäude der Görlitzer Bahnhofsmission wurde sichtbar und „christlich“ aufgewertet.

Eine Mitarbeiterin der Bahnhofsmission, die zugleich zur Görlitzer Gruppe des Blauen Kreuzes gehört (die in den Räumen der Görlitzer SELK-Gemeinde zusammenkommt) und auf Anraten und Empfehlung von Pfarrer Kelter bei der Bahnhofsmission eine erfüllende Tätigkeit gefunden hat, verweist Ratsuchende, die den Wunsch nach Gesprächen mit einem Seelsorger haben, an das Görlitzer Pfarramt der SELK. Der Görlitzer Pfarrer hat seine Bereitschaft erklärt, Kurzandachten in der Bahnhofsmission zu halten. Einladungen und Plakate der Bahnhofsmission werden seit einigen Wochen an das Pfarramt der Heilig-Geist-Gemeinde weitergereicht und dort öffentlich ausgehängt. Eine Kooperation, eine gegenseitige Wahrnehmung hat begonnen, die missionarische, diakonische und nicht zuletzt auch ökumenische Aspekte miteinander in guter Weise vereint.

Übrigens: In ganz Ostdeutschland gibt es nur elf Bahnhofsmissionen. Selbst in Landeshauptstädten wie Dresden existiert keine Station. In der Hauptstadt Berlin mit ihren zahlreichen Bahnhöfen gibt es nur drei Bahnhofsmissionen und in Mecklenburg-Vorpommern keine einzige.

Der Gründer der Heilsarmee, William Booth, hat das Wort geprägt: Man kann einem leeren Magen das Evangelium nicht verkündigen. (Prinzip: Soup and Gospel). Dass Mission und Diakonie untrennbar zusammengehören, ist eine Erkenntnis schon des 19. Jahrhunderts, die leider im Laufe der Jahrzehnte wieder in Vergessenheit geraten ist. Gerade auch in den besonders frommen Kreisen.

Die Bahnhofsmissionen in Deutschland werden von unterschiedlichen Organisationen (finanziell) getragen. Meist von Diakonie und Caritas. Aber auch Kirchgemeinden – auch Kirchgemeinden der SELK – können sich an Trägerschaften beteiligen. Wo die Finanzen, wie in Görlitz, dazu nicht ausreichen, können SELK-Gemeinden in ihren Reihen um ehrenamtliche Helferinnen und Helfer werben. SELK-Pfarrer können sich als Seelsorger anbieten. Wo es keine Bahnhofsmission gibt, können SELK-Gemeinden die Initiative zur Gründung einer Bahnhofsmissionsstation ergreifen. In ökumenischer Kooperation und mit Unterstützung der Deutschen Bahn AG, die für Gebäude und Gebäudeunterhalt aufkommt, bieten sich hier echte Chancen diakonisch-missionarischen Einsatzes. Ganz praktisch, ganz preiswert, ganz christlich, ganz evangelistisch, ganz diakonisch.